Krankheit

 

Nur wenige Tage nach seiner Rückkehr vom Schüleraustausch in Lyon wurde Malte krank. Er hatte bereits morgens Kopfschmerzen und musste häufig erbrechen. Wir dachten an nichts Schlimmes - vielleicht ein Magen-Darm-Infekt. Die Ärztin verschrieb Medikamente gegen Blaue Rosedie Übelkeit, die aber nicht das Mindeste bewirkten. Ausserdem hatte Malte plötzlich kaum noch Kraft in der linken Hand. Nachdem sich der Zustand über Tage hin nicht verbesserte, gingen wir ins Krankenhaus. Der Oberarzt veranlasste eine MRT (Magnetresonanztherapie bzw. Kernspintomografie) des Gehirns. Die Bilder zeigten eine walnussgroße Raumforderung. Diese war auch die Ursache für die zunehmende linksseitige Lähmung von Maltes Hand und dann auch dem linken Bein, denn sie drückte auf die entsprechenden Nervenbahnen.

Malte erhielt zunächst Cortison, worauf es ihm glücklicherweise schlagartig besser ging. Die Ärzte der pädiatrischen Onkologie der Uniklinik Frankfurt teilten uns mit, dass die Raumforderung umgehend entfernt werden müsse. Noch konnte niemand sagen, um welche Art von Tumor es sich handelte. Dieses war erst nach der OP möglich, da dann eine Gewebeprobe analysiert werden konnte.
Am 16. April 2002 wurde Malte operiert. Am Tag zuvor waren ihm vier kleine grüne Knöpfchen an bestimmten Stellen des Kopfes angeklebt worden, die für die OP per Neuronavigationssystem notwendig waren. Für Malte war es sehr schlimm, dass er dafür einige von seinen Haaren, auf die er so stolz war, lassen musste. Mit den grünen Knöpfchen sah er aus wie ein Marsmensch. Mein Mann und ich begleiteten ihn am Morgen bis zum OP. Später fuhr mein Mann auf die Arbeit, um sich abzulenken. Ich blieb während der gesamten Dauer der OP im Krankenhaus und lief im Gebäude umher, bis ich dort zufällig eine Freundin traf. Ich war froh, die Zeit des Wartens nicht mehr alleine verbringen zu müssen. Wir warteten solange vor der Kinderklinik, bis Malte von der Neurochirurgie zurückgebracht wurde und auf die Intensivstation kam. Ich war sehr erleichtert, als er langsam zu sich kam und Reaktionen zeigte, die erkennen liessen, dass er alles verstand, sprechen und sehen konnte.

Die OP in der Frankfurter Neurochirurgie war gut verlaufen und der Tumor konnte "weitestgehend" entfernt werden. Wir waren sehr erleichtert, dass Malte die OP gut überstanden hatte, von der er sich auch sehr schnell erholte. Mit seinem Verband um den Kopf lachte er bereits wieder. Im Krankenhaus hört Malte immer wieder das Lied "Changes" von 2Pac. "That's just the way it is - things will never be the same". Er wusste wohl, dass nichts mehr bleiben sollte, wie es einmal war. Wenige Tage später kam das Ergebnis der Gewebeanalyse: Glioblastom WHO IV. "Das muss ein Irrtum sein!" war mein erster Gedanke. Es war niederschmetternd. Denn in der Zwischenzeit hatten wir wie besessen im Internet recherchiert und erfahren, dass ein Glioblastom die prognostisch schlechteste Variante eines Hirntumors darstellt mit einer "statistischen Überlebensdauer" von weniger als einem Jahr. Jedoch wird diese Zeit von einigen Patienten deutlich überschritten, und es gibt sogar einige -wenn auch wenige- Langzeitüberlebende.

Es war wie in einem Alptraum, aus dem man normalerweise aufschreckt und erleichtert feststellt, dass es ja nicht die Realität ist - doch es war leider kein Traum. Ein Glioblastom zerbrochenes Fensterwächst infiltrierend, und so ist es unmöglich, bei einer OP alle Tumorzellen entfernen zu können. Ohne Weiterbehandlung durch Chemo- und Strahlentherapie würden die übriggebliebenen Tumorzellen erneut rasant wachsen. Angesichts dieser bedrohlichen Lage entschieden wir uns für eine Behandlung nach dem HIT-GBM-Protokoll für Kinder und Jugendliche, welches eine Bestrahlung und eine Chemotherapie vorsah. Auch wenn wir wussten, dass diese Art von Therapien bei einem Glioblastom nicht immer etwas auszurichten vermögen, so mussten wir einfach darauf hoffen, zudem gibt es Studien, die belegen, dass durch diese Therapieverfahren sich die Überlebenszeit etwas verlängert. Wir erwägten ebenfalls eine Behandlung in einer Klinik mit Alternativverfahren, was uns jedoch angesichts der Bedrohlichkeit dieses Tumors durch dessen rasantes Wachstum und der damit knappen Zeit, die uns zum Handeln blieb, nicht überzeugte. Malte war sehr stark und optimistisch, aber auch realistisch. Wie es seine Art war, nahm er das Unvermeidliche, wie es kam, und versuchte das Beste daraus zu machen.


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Zur Kontrolle waren Kernspintomografien in regelmäßigen zeitlichen Abständen anberaumt. Die nächste folgte nach der Bestrahlung und den ersten zwei Zyklen der Chemotherapie. Zu unserer aller Schock zeigte das MRT-Bild ein Rezidiv. Ausserdem musste ein Shuntsystem gelegt werden, da der Tumor auf das sog. Aquädukt drückte und die Hirnflüssigkeit aufstaute - das bedeutete eine erneute OP. Die Chemotherapie wurde sinnvollerweise sofort abgebrochen, und nach einer Absprache wurden wir vor die Wahl Wolkegestellt, mit Topotecan, wie es die Studie vorsah, oder mit Temodal weiterzubehandeln. Da wir ständig dabei waren, uns via Internet über die weitere Behandlungsoptionen zu informieren und von Temodal bereits positive Meldungen vernommen hatten, entschieden wir uns für eine Weiterbehandlung mit Temodal. Diese hatte auch den enormen Vorteil, dass es sich dabei um Kapseln handelte, die Malte zuhause einnehmen konnte. Auch galt diese Chemo vergleichsweise als gut verträglich und es war keine drastische Verschlechterung des Blutbildes zu erwarten, so dass Malte in seinem Umgang in der Öffentlichkeit weniger eingeschränkt sein würde. Er sehnte sich sehr nach seiner Klasse und danach, wieder in die Schule zu gehen!

Bald wurde ihm dieser Wunsch erfüllt. Die Lehrerin setzte sich dafür ein, dass Malte trotz langer Fehlzeit in die zehnte Klasse mitversetzt wurde. Malte ging es bald wieder so gut, dass er wieder die Schule besuchen konnte. Obwohl es zeitweise ohne Zweifel anstrengend für ihn war, veruchte er, keinen Tag zu versäumen. In seiner Klasse fand er großen Rückhalt.

Eine Kontroll-MRT im September ergab, dass der Tumor geschrumpft war! Darüber waren wir alle sehr erleichtert und schöpften neue Hoffnung. Leider sollte dieser Zustand nicht lange anhalten. Schon im Oktober war den MRT-Bildern zufolge erneutes Tumorwachstum zu verzeichnen. Es war eine gefühlsmäßige Berg- und Talfahrt. Erst neue Hoffnung - und dann wieder völlige Verzweiflung. Was noch blieb an Behandlungsmöglichkeiten war ein Therapieversuch mit Topotecan, einem aus einer Pflanze gewonnenen Chemotherapeutikum, welches oral eingenommen werden kann. Die Studien waren nicht gerade erfolgversprechend, aber wir hatten keine Wahl. Wir waren auch informiert über Versuche, dem Tumor über eine andere Schiene, nämlich über sein eigenes Versorgungssystem, beizukommen. Ab einer bestimmten Größe entwickelt ein Tumor ein eigenes Gefäßsystem, da er für sein Wachstum Regentropfenwesentlich mehr Nährstoffe und Sauerstoff als gesundes Gewebe benötigt. Es gibt Medikamente, die offenbar eine antiangiogenetische Wirkung haben, d.h. es könnte möglich sein, dass sie die Gefäßneubildung des Tumors zum Stillstand bringen oder zumindest reduzieren, so dass der Tumor in seinem Wachstum gebremst und somit sozusagen "ausgehungert" wird. Malte nahm also Topotecan und Thalidomid ein und wir konnten nur darauf hoffen, dass die Therapie anschlagen würde. Doch Maltes Zustand verschlechterte sich rapide. Er war ständig müde, konnte sich nur mühsam bewegen und bekam die Nebenwirkungen des Cortisons zu spüren. Er lag viel in seinem Bett und konnte sich nur schwer auf den Beinen halten.


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Am 28. Januar 2003 fuhr ich mit Malte auf die Intensivstation. Er lag plötzlich in seinem Zimmer auf dem Boden. Erst dachten wir, er sei aus dem Bett gefallen. Später wussten wir, dass es ein Grand Mal Anfall war. Malte befand sich in einem Koma und musste künstlich Trauerbeatmet werden, da die Atmung versagte. Die Ärzte teilten uns mit, dass es das Ende wäre. Wir mussten entscheiden, ob Malte an die künstliche Beatmung angeschlossen bleiben sollte oder nicht. Wir müssten jedoch damit rechnen, dass er die Nacht nicht überlebt. Umgekehrt wäre bei einer weiteren Beatmung mit einer stetigen Verschlechterung zu rechnen, so dass das Leiden nur herausgezögert werden würde. Wir entschieden uns für das Abschalten des Geräts.

Malte kämpfte und überlebte die Nacht! Allerdings kam ein epilleptischer Anfall nach dem anderen. Es dauerte einige Tage, bis das Medikament dagegen bei der richtigen Dosierung eingependelt war. Nach einigen Tagen konnte er auf ein Einzelzimmer auf der Kinderstation verlegt werden. Entgegen den ärztlichen Erwartungen und Prognosen besserte sich Maltes Zustand, was sicherlich auf die erfolgreiche abschwellende Wirkung des Cortisons zurückzuführen ist. Vielleicht spürte er die Unterstützung seiner Freunde. Bestimmt waren es auch die Gebete lieber Menschen. Vielleicht der Besuch meiner Mutter bei Sai Baba in Indien. Ganz sicher jedoch war es Maltes starker Wille, ohne den er sicher schon längst aufgegeben hätte. Als er nach einigen Tagen auf unsere Ansprache reagierte, war es für uns, als wäre uns Malte neu geschenkt! Man neigt in einer solchen Situation, in der das Leben eines geliebten Menschen auf dem Spiel steht, dazu, sich an jedem noch so dünnen Strohhalm Reisefestzuklammern. So klammerten wir uns an die kleinen Erfolge, von denen jeder einzelne für uns ein Wunder darstellte: anfangs konnte Malte überhaupt nicht mehr sprechen. Doch bereits nach wenigen Tagen nahmen seine Versuche, sich zu artikulieren, beständig zu und es gelang ihm, einige Worte und später sogar zusammenhängende Sätze auszusprechen. Wir feierten innerlich jedesmal ein Freudenfest. Nachdem er anfangs überhaupt nicht mehr schlucken konnte, passierte es, dass er am 11. Februar seiner Schwester Janis sogar das Glas aus der Hand nahm, um selbst daraus zu trinken. Als seine Oma zu ihm zu Besuch kam, bevor sie für einige Wochen verreiste und sich mit "bis bald, Malte" verabschiedete, schüttelte er nur den Kopf.

Bald schlief er immer häufiger und mit weniger Unterbrechungen. Wir drängten auf ein neues MRT, um weitere ärztliche Meinungen einholen zu können. Der MRT Befund ergab, dass der Tumor sich weit verästelt hatte. Kein Arzt konnte uns mehr Hoffnung machen. Malte schlief bald nur noch. Es gab Probleme mit Wasser in der Lunge und der Sauerstoffsättigung im Blut. Dazu kam hohes Fieber. Am 23. Februar starb er im Beisein von Freunden in meinen Armen.
Die Schwestern waren sehr lieb und mitfühlend. Wir konnten bis spät in die Nacht hinein bei Malte bleiben, ihm seine Jeans und sein Lieblingssweatshirt anziehen und uns von ihm verabschieden. Vor dem Zimmer stand ein kleiner Tisch, auf dem Kerzen und sein Bild standen. Es war ruhig und friedlich, fast wie zuhause. Keine Anonymität, sondern sehr persönlich. Wir sind dankbar, dass wir in einer so friedlichen Atmosphäre Abschied nehmen durften.
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